Zeitgeschichte
"Hilfszug, bitte kommen!" 99 4644 auf der Insel Rügen
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Nichts bleibt unversucht
Insgesamt fünf Entgleisungen, allein im Jahr 1967, das musste auch andere Gründe, als nur den schlechten Oberbau der Rügener Schmalspurstrecken haben. Die Lok, drei Jahre zuvor mit enormem Aufwand neu aufgebaut, war offenbar nicht ganz unschuldig, denn andere Rügenloks glänzten nicht durch derartige Entgleisungsrekorde in kürzester Zeit.
Im Bw Putbus, dem Bw Stralsund, der Rbd Greifswald, der Hauptverwaltung Maschinenwirtschaft und dem Raw Görlitz ließ man nichts unversucht, die Lok genau in Augenschein zu nehmen und die Ursachen an der Lok auszumerzen.
Schon nach den ersten Entgleisungen ging die Lok wieder auf die lange Reise, was jetzt auch durch ein Kieper-Foto nachzuweisen ist. Leider ist es mir nicht erlaubt, es Euch zu zeigen, weil es etwas ungeklärte Verwertungsrechte gibt.
Das Foto zeigt die Lok im Sommer 1967 im Außengelände des Raw Görlitz mit der Anschrift "Letzte Bremsunters. Raw "DSF" Gö 17.4.67", womit so ganz nebenbei auch die Vermutung bestätigt wäre, dass der 18.4.1967 mit hoher Wahrscheinlichkeit der erste Betriebstag der Lok auf Rügen war, an dem sie sogleich entgleiste.
Da wir die Betriebsbucheintragungen nicht kennen, aber weitere Fotos der Lok aus dem Jahr 1968 aufgetaucht sind, kann ich zumindest sagen, dass das Raw Görlitz im Rahmen dieser L 0 (Bedarfsausbesserung) Führungen für die Federspannschrauben anbrachte, die ein erneutes Umkippen der Spannschrauben, wie am 8.6.67 verhinderten. Die Lok hatte diese Führungen zuvor noch nicht, das ist auf den Fotos klar zu erkennen. Nach dieser Bedarfsausbesserung kam die Lok wieder nach Rügen, diesmal auf die Nordstrecke, wo die Abnahme ausweislich der auf weiteren Fotos nachweisbaren Bremsansuntersuchungsanschriften am 3. Oktober 1967 erfolgte. Wiederum einen Tag später und am darauf folgenden Tag folgten die nächsten beiden Entgleisungen bei Bergen.
Nach diesem 5. Oktober tritt eine größere Pause in den Aufschreibungen des Einsatznachweises auf. Die jetzt folgende Zeit ist durch mündliche Überlieferungen vor allem durch Jochen Warsow recht gut nachzuvollziehen.
Hoch angebunden...
...wird das Projekt 99 4644 nach dem 5. Oktober 1967. Die Lok wird nach diesem Fehlschlag sofort außer Betrieb gesetzt und nach Putbus überführt. In der Hauptverwaltung Maschinenwirtschaft (HVM) nimmt sich der Instukteur Oskar Hönig des Problems an. Hönig gilt damals als einer der führenden Praktiker in der HVM. Mit der Lok werden mehrere Probefahrten, vor allem auf der Stracke Putbus - Altefähr durchgeführt, die der Ursachenforschung dienen sollten. Hönig war persönlich anwesend und führte die Lok während der Erprobung. Die Bilanz der Fahrten war ein Fiasko, aber immerhin brachten sie weitere Erkenntnisse und Lösungsansätze. Das eigentliche Problem, den völlig verschlissenen Gleiszustand konnten sie aber leider nicht lösen.
Während der Probefahrten entgleiste die Lok bis zu dreimal pro Fahrt. Diese Entgleisungen fanden natürlich im Hilfszugbuch keinen Eingang, waren sie doch erwartet und gewissermaßen bezweckt worden, um Erkenntnisse zur Fahrdynamik der Maschine zu gewinnen. Die Mannschaft war also vorbereitet und setzte die Lok schnell wieder auf die Gleise, um wenige Kilometer weiter wieder die Aufgleistechnik auszupacken.
Was wurde also festgestellt?
1. Die Lok war unwahrscheinlich hart gefedert, so dass das Fahrwerk die vielen Gleislagefehler nicht ausgleichen konnte. Das Raw hatte sehr starke Federn aus ziemlich dickem Federstahl mit sehr langen Stützlagen eingebaut, die einer schweren Regelspurlok alle Ehre machen würden.
2. Die Achslager hatten nicht genug Höhenspiel, so dass sie in die vielen sehr tiefen Löcher nicht eintauchen konnten und die Radsätze immer wieder regelrecht abhoben, wodurch sie natürlich, vor allem in Bögen, sofort entgleisten. Gemessen an normalem Oberbau hatten die Höhenspiele ganz sicher übliche Werte, aber hier auf Rügen war damals längst nicht mehr alles normal. Das verdeutlichen mehrere Angaben im Hilfszugbuch wie "40 m Schiene umgeklappt..." sehr eindrucksvoll. Die Eisenbahner berichten übereinstimmend, dass man, vor allem auf der Nordstrecke, unzählige Schienennägel völlig problemlos mit der bloßen Hand einfach so aus den Schwellen ziehen konnte. Völlig ohne Hilfsmittel.
3. Messungen und Tests ergaben, dass die Achslastverteilung ungleichmäßig war, die Federn also ungleich belastet wurden. Eine weitere gefürchtete Entgleisungsursache.
Eine persönliche Beobachtung sei mir noch gestattet. Fotos aus der Gegenwart der 99 4644 und auch kürzlich aufgetauchte Bilder aus dem Jahr 1968 zeigen, dass die Federn nur relativ knapp über den Kragen der Rahmenausschnitte liegen / lagen. Bei guter Gleislage sicher kein Problem, dafür bleibt genug Platz, aber bei tiefen kurzen Löchern (leichte Schienenprofile mit kurzen Knicken) würde die Feder mit dem Federbund aufsetzen, wodurch das Achslager nicht mehr durch die Feder niedergedrückt würde und die Achse entlastet und abgehoben werden könnte. Umso stärker würde dieser Effekt bei den so gefürchteten Kreuzschlägen auftreten, also seitlich versetzten tiefen Löchern, schräg gegenüber, bei denen eine "Ecke" der Lok sozusagen in eine Richtung kippt und damit die schräg gegenüberliegende "Ecke" die Schiene unter dem Rad noch leichter verlieren kann. Und diese Oberbauschäden waren damals ganz sicher auch nicht selten auf dem Netz Rügen.
Noch immer war das Raw Görlitz in der Pflicht, die Erprobung der Lok auf Rügen ein einziges Desaster. Die L 3 im Frühjahr 1967 und die L 0 im Sommer gescheitert, weil die Lok nicht betriebstauglich war.
Die HVM genehmigte für 99 4644 eine L 2 für 1968. Die Lok wurde also zu einem unbekannten Zeitpunkt dem Raw Görlitz zugeführt. In diesem Zusammenhang erreichten mich zwei sehr interessante Fotos der 99 4644 auf einem Transportwagen (Heimatbf. Freital Po.), auch von Klaus Kieper aufgenommen. Nach Kiepers Angaben wurden sie im April 1968 in Zittau aufgenommen. Das etwas unspezifische Terrain im Hintergrund kann auch von Ortskundigen nur zu etwa 90% dem Güterbahnhof Zittau zugeordnet werden.
Aber die Sache erscheint logisch. Das Raw Görlitz hat offensichtlich schon an der Lok gearbeitet. Rauchkammertür, Führerhausvorderwand und Sandkasten wurden scheinbar neu lackiert. Das Fahrwerk der Lok ist bekritzelt mit den üblichen Notizen des Raw, vor allem im Bereich der Federspannschrauben. So ganz nebenbei erfährt der Betrachter auch, dass die Lok inzwischen dem Bw Stralsund gehört. Na klar, die letzten Strukturen des Bw Putbus hörten mit der Betriebseinstellung der Strecke Altefähr - Putbus im Dezember 1967 auf, zu existieren. Putbus wurde Einsatzstelle des Bw Stralsund.
Auch viele Jahre später führte das Raw Görlitz mit 99 4801 in Zittau Probefahrten durch. Warum nicht 1968 auch mit 99 4644. Es gibt bisher nur diese eine Spur, die nach Zittau führt. Über sachdienliche Hinweise, natürlich auch über Fotos der 99 4644 auf der Zittauer Schmalspurbahn würde ich mich sehr freuen.
99 4644 hat auf diesen Fotos noch die schweren Federpakete, die aber offensichtlich bei diesem, ihrem letzten, Raw Aufenthalt gegen deutlich filigranere Federn ausgetauscht wurden. Die kann man heute in Mesendorf an ihr bestaunen.
Jochen Warsow erinnert sich gut, dass 99 4644 eine längere Zeit ohne Federn abgestellt war. Sicher hatte das zuständige Raw (Zwickau ? Schon damals?) wichtigeres zu tun, als lumpige acht Federn für eine Schmalspurlok um- bzw. aufzuarbeiten.
Der Termin der Auslieferung und erneuten Inbetriebnahme auf Rügen konnte noch nicht ermittelt werden. Alle mir bisher bekannt gewordenen Fotos ab 1968 verschweigen leider das Datum der letzten Bremsuntersuchung, die mit der L 2 auf alle Fälle ausgeführt wurde und allgemein mit der bestandenen Probefahrt auf der Einsatzstrecke wirksam und angeschrieben wird. Zum Einsatz kam sie, aber wie?
Letzte Änderung: 19.10.2023 07:54 Uhr
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